„I usually date man“

Sollte sie hierbleiben, um etwas zu essen? Oder doch zurück nach Manhattan fahren? Wie so oft war Luise unentschlossen. Gerade fuhr sie elektrisch unterstützt mit einem Leihvelo eine Straße hinunter, die weg vom Prospect Park führte – leicht verunsichert, jedoch auch freudig erregt darüber, nicht genau zu wissen, wo sie war.

Mit einem Mal fiel ihr Blick auf eine Buchhandlung. Es irritierte sie, dass sie zu dieser Zeit, es musste inzwischen etwa acht Uhr gewesen sein, noch hell erleuchtet war. Da war auch schon eine Parkstation für die Leihräder… warum nicht. Sie hielt an, gab das Rad zurück – man musst es mit Schwung, fast krachend in die dafür vorgesehene Halterung geben; es fühlte sich für Luise so an, als ob sie etwas wegwerfen oder mutwillig zerstören würde, aber es ging wirklich nicht anders…

Es war eine Fachhandlung für Poesie. Hier wurden vor allem bereits gelesene Bücher ein weiteres Mal verkauft. Der Raum war schmal, die Regale aus Kiefer. Schnell war sie am Ende des Geschäfts angelangt, in dem sich vielleicht noch vier weitere Kunden befanden. Unerwartet schloss sich ein Hinterhof an – zu Luises weiterer Überraschung war er gut besucht: auf etwa 30 Klappstühlen saßen Leute ihrer Generation, die einer kolumbianischen Schriftstellerin, die vermutlich wie Luise selbst in ihren 30ern war, zuhörten. Es war bereits das Q&A, vorher musste es eine Lesung gegeben haben.

Luise blieb in der Tür stehen. In keinem Fall wollte sie diese Angelegenheit stören; dicht neben ihr stand eine zierliche Frau, die sich als Verlegerin der Autorin herausstellte. Sie war sehr nett – Luise hatte jedoch keine Zeit: New York trieb sie vor sich her, durch es hindurch – und nun war sie hungrig. Was war zu tun? Je lähmte sie wieder einmal ihre Unentschlossenheit – wenn sie doch nur jemanden fragen könnte … da erblickte sie einen Mann, etwa ihres Alters, der vor einem Regal stand und las. Ihr gefiel sein Outfit, er war einen Kopf größer als sie und wirkte so, als ob er wüsste, was nun zu tun sei, wohin man nur gehen sollte. Luise sprach ihn an.

Sein Blick erhob sich von dem Buch, was in seiner Hand lag, als Luise „Excuse me?“ sagte. Er schien etwas überrascht, so wie jemand, der im Zug träumt und gerade noch rechtzeitig bemerkt, dass die nächste Haltstelle seine sein wird. Luise liebte es, in die Höflichkeitsfloskeln des Englischen zu schlüpfen, die alles was man aussprach irgendwie glasierten. „I am so sorry, I hope I am not disturbing you, but somehow I am lost.” Luise wusste, dass sie ihn wissentlich störte – das Ausdrücken der Hoffnung, dies nicht zu tun, war überflüssig, aber so machte man eben Konversation. “No, no. Not at all – what can I help you with?”, das Buch hatte er nun zugeschlagen… Er musterte sie – sie trug einen schwarzen kurzen Rock und das T-Shirt, was sie sich an ihrem ersten Tag in New York gekauft hatte: sie hatte die Woche in Manhattan mit dem Besuch eines Konzerts ihrer Lieblingsband – „Vampire Weekend“ – beginnen lassen, nun trug sie mit heimlichen Stolz die weißen Buchstaben dieses Bandnamens auf ihrer Brust, darunter war eine zerstörte „Subway“-Tür zu sehen … „I am here for the first time – I was just strolling around Brooklyn and now looking for a nice place to eat. But I am indecisive if I should stay here – or go back to Manhattan? Somehow you looked like you could help.”, sie lachte. “Sure, no worries! I can recommend you some places…” und dann fing er an einige Lokale hier in der Gegend zu beschreiben, tendierte in seinen Empfehlungen jedoch dazu, zurück nach Manhattan zu fahren „I can write these into your phone, if u like?” Amerikaner sind wirklich immer so unfassbar freundlich. Luise gab ihm ihr Handy. Er empfahl ihr einige Koreaner, Vietnamesen, Pho-Läden – und einen Italiener im West Village… Nachdem der Austausch über die Gastronomie abgeschlossen war, noch immer tippte er fast schon zärtlich einige Restaurantnamen in Luises „Notes“-App, fragte er fast beiläufig „Yeah, but where are you from actually? I mean … What are you doing in New York?“

Er war wirklich süß. Sie mochte sein ausgewaschenes Designer-Shirt. Er hatte diesen mühelosen “Out-of-Bed-Look“ mit verstrubbelten schwarzen Haaren und dunklen Augen. Luise sprach von ihrer „Geschäftsreise“: wie sie für das Hamburger Architekturbüro, in dessen PR-Abteilung sie arbeitete, nach New York geflogen war, um eine kleine Ausstellung im Goethe-Institut zu eröffnen, um Social-Media-Beiträge dafür zu machen und nun noch die Tante eines Freundes für ein verlängertes Wochenende besuchte, die nun ausgerechnet mitten in der Stadt ein „Brown-Stone-House“ besaß. Ihr kam die eigene Geschichte so dermaßen unglaubwürdig vor, dass sie schon wieder recht plausibel klang. „So, I don’t know if you are free right now? But there is a Dutch Ice cream store across the street, it’s pretty good. Do you like some?” “Well …” Luise zögerte einen Augenblick, aber eigentlich nur, um etwas kokett zu wirken.

Sie entschieden sich, eigentlich entschied Luise, für Pistazien und Schokoladeneis. Da Luise heute schon ein Eis in einer Filiale derselben Kette an einem anderen Ort in Brooklyn gegessen hatte, und die Portionen sehr amerikanisch, also riesengroß waren, entschieden sie sich dazu, den Becher zu teilen und das sahnige Eis mit je einem Löffel zu essen. Der Junge zahlte – „What is you name actually?“

***

„Sheldon.“

„Sheldon?!“

„Yeah. And yours?”

Auch Sheldon ist Vampire Weekend Fan. Er fand es cool, dass Luise beim Konzert gewesen war. Und das T-Shirt gekauft hatte.

***

Es war Anfang Oktober und da New York auf demselben Breitengrad liegt wie Neapel, waren die Temperaturen noch mild. Die Bewohner vieler Häuser hatten bereits begonnen, das Motto „Halloween“ aufzugreifen. Auf den Treppenstufen einiger Eingänge standen Kürbisse, es hingen Skelette (oder Teile davon) in den Fenstern, hier und da waren Spinnenweben aus dünnen Synthetikfasern in Bäume oder Geländer verteilt worden. Sheldon aus Brooklyn und Luise aus Hamburg sprachen über Literatur, über Popmusik und Filme – über die Unterschiede zwischen Europa und den USA, über Politik. In einer Woche würden zum 45. Mal in der US-amerikanischen Geschichte die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes zur Wahl aufgerufen sein, um das Amt der Präsidentin neu zu besetzen.

 „So, this was nice. What are you doing now?“ sagte Luise, das Eis war inzwischen nahezu aufgegessen. „I was just going to a friend’s house to watch this Movie .. “Beetle Juice” – you know, since it’s Halloween and all”. Sheldon erklärte, dass es eigentlich nicht das Haus eines Freundes sei, mehr das Flachdach und eher der Freund eines Freundes…“ Sie gingen los. „It is funny how you just trust people, Luise. Why do you do that?” “I do not know. I just have a good feeling about you.” Luise lächelte.

Lucas war noch dabei den Beamer auf einer alten Stehlampe zu installieren, als Sheldon und Luise die Tür zum Dach aufstießen. Auf einmal war da dieser Blick auf das erleuchtete Manhattan, vor Luises Augen türmte sich ein Panorama von gelb und weiß strahlenden, gläsernen Hochhäusern – alles weit entfernt, auf der anderen Seite des Hudson, aber doch ganz nah. Sie verweilten, bis andere Filmgäste kamen … Luise schlug vor, eine Pizza zum Film zu holen, der Hunger ließ sie nicht los… „I come with you“, sagte Sheldon. Schon war er bei ihr und sagte leise: „You know, as it is you last night in New York … Maybe you should get back to the city, to that Italian Restaurant I told you about. It is really good, I promise. I think you would love it, as you have studied in Milan, right?” Sie hatten sich gegenseitig schon ihre Leben erzählt. “Yeah, it sounded really good. If you are free – I do not want to bother you, but … would you enjoy coming with me?”

Sheldon war Designer für ein Unternehmen, was zwei Datingapps entwickelt hatte – er hatte Computer Science in Kalifornien studiert und war seit einigen Jahren eher mediengestalterisch als programmierend tätig. Er hatte sich eine Wohnung in Brooklyn gekauft und arbeitete vier Tage die Woche. All das erzählte er ihr in der Subway in Richtung West Village. Die Züge waren sehr alt, wenn irgendwo ein Fenster offenstand, musste man sich anschreien, um sich zu verstehen. Luise hatte in ihnen immer etwas Angst, weil sie wirklich extrem schnell fuhren und man in den Plastikmulden, die als Sitze galten, manchmal Mühe hatte, das Gleichgewicht zu halten. „Do you not want to know, if I have siblings, too?“ rief er ihr ins Ohr.

Luise hält die Speisekarte in der Hand – sie ist aus festem, schönem Papier. Mit ihren Fingern betastet sie für andere unbemerkt das Material und freute sich daran. Sie hatte schon immer eine große Liebe für hochwertige Papeterie und Kalligraphie.  Als Aperitif hatte sie sich einen Cynar Spritz bestellt und Sheldon, der schon viel früher am Abend gegessen hatte, ein Glas Wein – nach ausgiebiger Beratung des Kellners. Weil sie keine Reservierung hatten, bekamen sie einen Platz an der Bar. Sie hatten einige Zeit in der Schlange vor dem Lokal stehen müssen, genauso, wie Luise es aus Filmen kannte, die in New York spielen. Sie wählte schließlich den Fisch und einen Salat dazu – und noch ein Glas Wein. Sheldon fragte solche Dinge wie, ob sie sich einmal vorstellen könne, Kinder zu bekommen, sie sprachen über ihre Mütter … Das Lokal wurde von einem lesbischen, italienischen Pärchen betrieben – in Mailand hatte Luise damals, während ihres Auslandssemesters, nicht besser gegessen. Jetzt wollte sie zahlen. „Please, I would love to offer you this one, do you let me? I mean, you had the long travel and … and it is your last night. I would like to thank you for sharing it with me.” Für das Jahr 2024 hatte Luise sich vorgenommen, Einladungen besser oder überhaupt annehmen zu können. Endlich sagte sie “Thank you, I really apricate that, that’s very sweet.”

Als sie in die sonntägliche Nacht New Yorks traten, fragte Sheldon: „What do you think? Would you like to go for a walk? We are close to the NYU – the Washington Square Park is around the corner – and really nice. You should see it!” Nach wenigen Minuten tat sich vor ihnen eine umzäunte Grünfläche mit einem Triumphbogen auf, der so strahlend weiss war, wie Shaldons Zähne. In der Mitte plätscherte ein Springbrunnen, dann waren da einige Obdachlose, Freunde und Verliebte. Sie setzten sich auf eine Bank aus Holz. Sheldon zögerte, legte dann seinen Arm hinter Luise. Er schaute ihr in ihre Augen, die stahlblau waren. „I have to tell you something …“ Luise legte die Stirn in Falten und Sheldon sagte: “I usually date man.”

Luise hatte Mühe damit es zu begreifen, wenn sie auf einem Date war, Männer mit ihr flirteten oder in sie verliebt waren. Auch darin hatte sie beschlossen in 2024 besser werden wollen. „That’s all right – are we even on a date?“ sie lachte ihn an. Dann verspürte sie aber doch große Lust, Sheldon zu küssen. „Can I kiss you anyway?“, fragte er schließlich. Sheldon und Luise küssten sich.

Im Washington Square Park wurden Patti Smith und Robert Mapplethorpe hinterher grufen, dass sie „Just Kids“ seien – eine Aussage, die später der Titel für Smith‘ Memoiren über ihre frühen New York Jahre und die Liebesbeziehung zu Mapplethorpe wurden. Mapplethrope lebte später mit einem Mann zusammen, erkrankte an Aids. Luise hatte sich das Buch vor kurzem erst besorgt – wegen ihrer Reise. Sheldon erzählte ihr ungefragt diese Anekdote. Sie hatte eine Schwäche für belesene Menschen. Ein Parkwächter sprach die Besuchenden an, dass der Park nun geschlossen werden würde, es war eine Aufforderung zu gehen. „What do we do next?“

Sheldon führte Luise einige Querstraßen weiter – sie gingen eine Treppe hintunter ins Souterrain. Hinter einer Tür, an der man klingeln musste, damit sie sich öffnete, verbarg sich ein Bar. Im „Up&Up“ bestellten sie Cocktails. Luise liebte alle Sours, jedoch schmeckten sie hier extrem süß. Ach, die USA.

Sheldon und Luise knutschen eine Weile herum, schließlich fragte er sie, ob sie schon mal Sex auf einer öffentlichen Toilette gehabt hätte. Luise verneinte. Sie erinnerte sich an den Sex im Gras Nahe eines Flusses mit Clemens, der eigentlich viel zu jung gewesen war, sie studierte, er war Abiturient, aber sah deutlich älter aus … Luise und ihre Freundinnen nannten ihn immer den „kleinen Clemi“, obwohl er zwei Meter groß gewesen war. Sie hatte auch eigentlich überhaupt keine Lust mehr, auf diese Art von Sex. Das Ausschöpfen und Gelegenheiten, sich der Leidenschaft hingeben … all davon hatte sie reichlich in ihren 20ern genossen. Irgendwie begann es sie zu langweilen – oder aber: der Wunsch nach einer tieferen emotionalen Verbindung zu einem anderen Menschen war größer geworden, als die Lust. Spontaner Sex schien Beziehungen unmöglich zu machen, zumindestens in Luises Fall. Sie wusste nicht genau, wie sie mit Sheldons Frage umgehen sollte. Er flüsterte ihr ins Ohr, was er gerne mit ihr tun wollen würde. Meinte, sie solle doch vorgehen in die Toilette, er würde ihr folgen. Sie traute sich nicht, schließlich ging er vor, sie folgte. Sex auf Toiletten, dachte sie, das steht mir überhaupt nicht.

Kurz nach dem sie nacheinander eingetreten waren, klopfte es an der Tür. Der Barkeeper. Freundliche Hinweise, dass Toiletten nicht zu zweit benutzt werden sollten. Luise war erleichtert … was hatte sie sich eigentlich dabei gedacht?

Sheldon hatte Luise noch eingeladen, mit zu ihm nach Brooklyn zu kommen. Luise entschuldigte sich, dass sie vor ihrem letzten Tag in New York noch etwas schlafen möchte – und sie auch die Tante des Freundes keine Sorgen bereiten wollen würde. Eigentlich aber, so wusste sie, hatte sie mit One-Night-Stands einfach aufgehört. Sie brauchte das nicht mehr – zumindestens in diesem Lebensabschnitt. Sheldon wollte ihr gern das Taxi bezahlen – das ging Luise nun aber doch zu weit. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag.

Luise und Sheldon trafen sich in SoHo, in einem Diner, was „Frank‘s Wife Frieda“ hieß. Luise hatte sich einen Burger und Cava bestellt – es war ihr letzter Tag in New York und ein Abschiedsessen, was ein sprudelndes, alkoholisches Getränk zur Mittagszeit verdiente. Sheldon kam und wirkte bedrückt. Sie spazierten durch die pittoreske Architektur des Viertels, überall waren Verzierungen aus „cast-iron“ angebracht, wofür dieses Quartier bekannt war. Sheldon began: „I am sorry I led you on, yesterday.“ Luise stutzte. “You know, I realized, again, that I really want to end up with a man. I don’t know … “ Sie stoppte ihn. „Sheldon, there is really no need to ….“ Zu keiner Zeit hatte Luise ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, eine den atlantischen Ozean überspannende Beziehung zu diesem Mann aufzubauen. Es wäre zu absurd – vielleicht war sie aber auch nicht romantisch genug? Hätte sie mit Mitte zwanzig andere Erwartungen gehabt, als nun – mit 34? Musste es immer die große Liebe sein? Und gab es sie überhaupt?

Sheldon berichtete, dass es ihm bisher nur gelungen war, mit Frauen Beziehungen zu führen, obwohl er sich seine Zukunft tatsächlich mit einem Mann vorstellte. Mit Männern waren es bisher nur Affären gewesen. Luise riet Sheldon schließlich doch eine seiner Apps auszuprobieren, ganz ernsthaft Sex erstmal auszuschließen und genau das, eine Beziehung zu einem Mann, zu suchen. Sheldon lächelte. Er zog etwas aus seiner Jackentasche. „I got you this.“ Es war ein Buch: Kick the Latch von Kathryn Scanlan. “I thought you’d enjoy this.”